Patientenerfahrung: Lipödem & Essstörung

Mein Name ist Nicole, ich bin 35 Jahre alt, noch kinderlos und promovierte Sprachwissenschaftlerin.
Das Lipödem brach bei mir ganz klassisch in der Pubertät aus. Wenn ich als Jugendliche über starke Schmerzen in den Beinen klagte, hieß es immer, dass es Wachstumsschmerzen sind, welche aufhören, sobald ich ausgewachsen sei.
Doch leider hatte ich zu Beginn meines Studiums und nach meinem Auszug von Zuhause, mit mittlerweile fast 20 Jahren, immer noch diese so genannten „Wachstumsschmerzen“. Auch nahm ich stetig an Po und Beinen zu.
Ich musste mir oft anhören, dass ich wohl seit dem Auszug meine Ernährung vernachlässige. Ich solle diese doch bitte wieder optimieren und noch einen Tag die Woche mehr Schwimmen gehen. Und das, obwohl ich aktiv im Schwimmverein der Uni war.
Doch was zu diesem Zeitpunkt niemand wusste; ich war bereits schwer essgestört.
Als junges Mädchen war ich sehr ehrgeizig und es ging mir nicht in den Kopf, warum ich von max. 500 Kilokalorien am Tag weiter zunahm.
Als ich 2010 zum Ende meines Studiums mitten in meiner Doktorarbeit steckte, brach ich endgültig zusammen und verbrachte einige Monate in einer Rehaklinik für essgestörte Patienten. Denn meine Schmerzen und mein auswegloser Kampf gegen eine „Windmühle“, welche mein Körper war, machten mich mürbe. Doch auch in der Reha wusste niemand, was mit mir los war; warum eine junge Frau einen schmalen Oberkörper und einen sehr stämmigen Unterkörper mit einem Unterschied von 4 Konfektionsgrößen sowie starke Mangelerscheinungen aufweist. Aufgrund meiner starken Schmerzen in den Beinen wurde mir Physiotherapie verordnet. Die Therapeutin schaute mich fragend an und sagte „Sie wissen nicht, dass sie am LIPÖDEM leiden?!“
Hier wurde ich zum ersten Mal über die Krankheit „LIPÖDEM“ aufgeklärt. Auch wurde eine zweite Therapeutin hinzugezogen, welche selber am Lipödem erkrankt war. Diese Therapeutin fiel mir bereits durch ihre top trainierte Figur mit den seltsamen, nicht dazu passenden Beinen auf. Sie leitete viele Sportkurse für in Reha befindliche Patienten und versicherte mir, dass das Lipödemfett selbst leider Diät- und Sportresistent sei. Am selben Abend wurde im Fernsehen auch ein Bericht von Akte 20.10 über meine unbekannte Erkrankung „Lipödem“ gezeigt und mein Telefon lief zuhause heiß. Meine Eltern, als auch einige Freunde fragten, ob ich diesen Bericht auch gesehen habe. Ja, hatte ich!
Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich gar nichts für meine Optik konnte, dass ich mir die Schmerzen nicht einbilde, dass ich nicht unzulänglich war. Erlösung und Schock zugleich, denn immerhin handelt es sich um eine kaum erforschte, chronische Erkrankung. Ich musste lernen, mit der Krankheit zu leben, nahm mir etwas über ein Jahr Zeit dafür und schöpfte die Konservativtherapie so gut es ging aus. Ich ließ mich in einer Lymphklinik entstauen, trug von früh bis spät meine Kompression, ging 3 Mal wöchentlich zur Lymphdrainage und machte weiterhin auch Sport in der Kompressionsbekleidung.
Zeitgleich „sammelte“ ich Gutachten von Fachärzten aus ganz Deutschland, die mir bestätigten, dass in meinem mittlerweile erreichtem Stadium 3, die Liposuktion unumgänglich sei. Denn, ich stand kurz vor der Berufsunfähigkeit - langes Sitzen im Büro oder gar Stehen vor meinen Studenten war nur noch bedingt möglich.
Die Konservativtherapie tat mir vorerst gut. Allerdings verlor ich weder komplett meine Schmerzen (lediglich die Ödeme bekam ich zwischenzeitlich in den Griff), noch verlor ich an Umfang. Im Gegenteil! Mit mittlerweile Konfektionsgröße 54 am Unterkörper, bei gleichbleibender Größe 40 am Oberkörper, stellte ich den Antrag auf Kostenübernahme für die Liposuktionen und musste mich dem MDK vorstellen. Glücklicherweise sah der MDK ein, dass die OP‘s in meinem Fall sinnvoll sind. Und somit trat ich meinen langen OP-Weg an.
Mittlerweile habe ich 10 Liposuktionen samt Hautstraffung hinter mir. Ich habe 5 Kleidergrößen verloren und bin fast komplett schmerzfrei. Auf meine Kompression kann ich immer besser verzichten, wenn auch nicht komplett, ich gehe nur noch ein statt drei Mal wöchentlich zur Lymphdrainage. Und meine Essstörung habe ich überwunden, weil ich immer mehr Frieden mit meinem Körper schließe. Er und ich haben so viel gemeinsam geschafft, wir sollten Freunde statt Feinde sein! Warum nehme ich an dieser Plakataktion teil?
Es kann und darf nicht sein, dass mit zweierlei Maß gemessen wird! Warum genehmigen die Krankenkassen einigen Frauen die Liposuktionen, während sich andere Frauen hoch verschulden müssen, um ein schmerzfreies Leben führen zu können?! Deshalb gehört die Liposuktion (nach Ausschöpfung der Konservativtherapie) in den Leistungskatalog der Krankenkassen! Frauen, die den Weg der Liposuktion aus gesundheitlichen Gründen NICHT gehen können oder wollen, müssen optimal konservativ versorgt werden! Lymphdrainage und Kompression sind Hauptbestandteil der Therapie. Ärzte, die uns versorgen, dürfen keine Regresse befürchten müssen! Wir haben nur dieses eine Leben! Macht es uns nicht noch schwerer! Und ich? Ich bin noch nicht ganz da, wo ich hin möchte, aber auch schon lange nicht mehr da wo ich einst startete.